Wer schon einmal an der Nordsee Urlaub gemacht hat, kennt den permanenten Wechsel von Ebbe und Flut. Bei ablaufendem Wasser fallen große Teile des Meeresbodens für einige Stunden trocken. Man kann vor der Küste Wattwanderungen unternehmen. Anschließend steigt das Wasser wieder, bis es seinen höchsten Stand erreicht hat. Einige kleinere Häfen können nur bei Hochwasser angelaufen werden. Der Wasserstand reicht bei Ebbe nicht für den Tiefgang größerer Schiffe aus. Sie müssen warten, bis das Fahrwasser wieder tief genug ist, um passiert werden zu können.
Den ständigen Wechsel zwischen Ebbe und Flut, die Seeleute sprechen von „Gezeiten“ oder von „Tide“, verdanken wir der Anziehungskraft des Mondes. Er zieht das Wasser der Ozeane so stark an, dass dieser Wechsel an den Küsten deutlich wahrnehmbar ist. An einigen Orten beträgt der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser mehrere Meter. Das Auf- und Ablaufen des Wassers führt zu kräftigen Strömungen, die in die Mündungen von Flüssen und weit stromaufwärts ziehen. Wer einmal im Hamburger Hafen das Wasser der Elbe beobachtet, kann deutlich beobachten, dass das Wasser bei Flut mit erheblicher Kraft landeinwärts strömt, also gegen die eigentliche Fließrichtung des Flusses. Die Flut drückt mit solcher Kraft stromaufwärts, dass das Wasser Geschwindigkeiten von vier Knoten (Seemeilen pro Stunde – 1 Seemeile entspricht 1,852 km) erreichen kann. Bei Ebbe kehrt sich die Bewegung entsprechend um.
Für Schiffe macht es einen großen Unterschied, ob sie mit oder gegen den Tidenstrom fahren. Deshalb richten sich Kapitäne nach dem Tidenkalender, im dem die Zeiten von Ebbe und Flut genau verzeichnet sind, um möglichst mit dem Gezeitenstrom ein- und auslaufen zu können. Großfrachter und Passagierschiffe wie die „Queen Mary II“ müssen schon wegen ihres enormen Tiefgangs mit der Flut ein- und mit einsetzender Ebbe wieder auslaufen, um im Hafen sicher manövrieren zu können.
Die starken Strömungen, die durch den Wechsel von Ebbe und Flut regelmäßig eintreten, lassen sich auch zur Energiegewinnung nutzen. Gegenüber Wellenkraftwerken haben Gezeitenkraftwerke sogar einen entscheidenden Vorteil. Während die Wellenintensität vom Wetter abhängt, wirkt die Kraft des Mondes weitgehend regelmäßig. Je höher der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser, um so größer ist das Potenzial für die Energiegewinnung. Ingenieure gehen davon aus, dass ein wirtschaftlicher Betrieb erst bei einer Differenz von mindestens fünf Metern möglich ist. Das ein- und ausströmende Wasser wird durch Rohrturbinen geleitet. Die Rotation der Turbinen erzeugt elektrischen Strom. Um eine hohe Ausbeute zu erzielen, kann das Wasser durch Dämme bzw. Deiche kanalisiert und in Staubecken geleitet werden. Beim Ausfließen werden die Turbinen erneut angetrieben. Möglich sind aber auch frei stehende Strömungsgeneratoren, die ohne Damm unter Wasser platziert werden.
An der Atlantikküste Frankreichs, bei St. Malo, erreicht der Tidenhub durchschnittlich 12 Meter. Ein idealer Standort für die Energiegewinnung. Dort wurde in den Sechziger Jahren in der Mündung der Rance ein Gezeitenkraftwerk installiert. In den Damm des Staubeckens sind 24 Generatoren integriert, die zusammen eine Leistung von 240 MW haben. Vor der britischen Küste sind die Bedingungen ähnlich. Dort ist ein Großkraftwerk zwischen Cardiff und Bristol geplant. Auch in Nova Scotia, Kanada, gibt es in der Bay of Fundy ein Gezeitenkraftwerk. Es erzeugt nur im Ebbstrom Energie. Es dient einstweilen als Forschungsplattform zur Gewinnung von Erfahrungen für eine dort mögliche, weit größere Anlage in der Zukunft. Auch in China und Russland befinden sich Gezeitenkraftwerke.
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